Die Verneinung

Neben Mama und Papa sind JA und NEIN ganz existentielle Aussagen. Wenn ein Kind die Bedeutung von JA und NEIN erfasst hat, kann es, selbst wenn ihm die Sprache ansonsten fehlt, wenigstens passende Fragen mit JA und NEIN beantworten. Doch das Spektrum dieser beiden Begriffe ist noch größer. Wenn das Kind älter wird, gibt es die Verneinung in grammatischen Zusammenhängen und eigentlich ist auch die Entdeckung von Gegensätzen eine Form der Verinnerlichung dieser beiden Begriffe:

  • JA und NEIN
  • Verneinung im Satzbau
  • Gegensätze
  • JA und NEIN
  • nein

    Für Axel war es schwierig, JA und NEIN zu sprechen. Durch Kopfnicken oder Kopfschütteln, die in unserer Umwelt gängigste Form der sprachlosen Ausdrucksweise, konnte er sich auch nicht verständlich machen. Scheinbar war für ihn auch dieser Bereich sehr schwer gezielt zu benutzen. Schließlich entschieden wir Eltern uns dafür, die Gebärden einzuführen.

    Nun konnten wir z.B. bei den Mahlzeiten fragen: "willst du das essen?" Auch Telefonieren oder andere Gespräche wurden möglich, indem man einfache Fragen stellte, die durch JA oder NEIN zu beantworten waren.

    Da unsere Umwelt jedoch im Allgemeinen sehr ungeduldig ist, verlegte Axel sich bald darauf, Standardantworten zu benutzen. Er überlegte insbes. bei schwierigeren Fragen nicht lange, ob er mit JA oder NEIN antworten sollte, sondern antwortete spontan und schnell mit NEIN (einfacher als JA).

     Irgendwann merkte er schließlich, dass er durch diese Antwort vieles nicht bekam, was vielleicht doch interessant gewesen wäre. Und so verlegte er sich irgendwann auf die Standardantwort JA (ein kurz gesprochenes DA)

    Als ich dann erkannte, dass er gerne mit Standardantworten auf Fragen reagierte, lernte ich, die Fragen mehrfach zu stellen und so, dass JA und NEIN bei bewusstem Inhalt nötig wurden. Wenn er gezielt richtig antwortete, konnte ich sicher sein, dass er mich verstanden und korrekt geantwortet hatte.

    Diese Entwicklung war bereits vor dem Kindergarteneintritt abgeschlossen, aber selbst heute (Axel ist 11 Jahre alt) kann es noch passieren, dass er mit seiner Standardantwort JA eine schwierige Frage beantwortet. Aber ich weiß, dass ich bei einem einfachen JA immer hinterfragen muss.

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  • Verneinung im Satzbau
  • Als Axel etwa 5 Jahre zählte, konnte er WAS-Fragen, WER-Fragen und WO-Fragen zwar nicht selbst stellen, wohl aber beantworten. Er teilte mir nach dem Kindergarten im Rahmen seiner sprachlichen Fähigkeiten das eine oder andere Erlebnis mit (z.B. dass er eine Katze gesehen hatte). Unter der Annahme, dass er aufgrund seiner häufigen Paukenergüsse und motorischer Schwierigkeiten vieles sprachlich nicht ausdrücken konnte, wohl aber kognitiv verstand und umzusetzen bemüht war, schätzte ich ihn auf 3-4 Jahre Entwicklungsstand ein. Bei dieser Einschätzung orientierte ich mich am Macquarie-Programm (heute neu aufgelegt in: Kleine Schritte, DS-InfoCenter zu erwerben).

    In dieser Zeit wurde plötzlich Axels Verhalten sehr schwierig. Er schüttete unerwartet den Becher über den Tisch, statt zu trinken. Er rannte die Treppe hoch statt runter. Er rannte zum Tor statt zur Garage.

    Als ich Axels Entwicklungsalter verifizierte und feststellte, dass er Verneinung nun sprechen würde, wenn er es motorisch denn könnte, übernahm ich dies für ihn. Ich nahm die Problemsituationen vorweg und sagte nun nicht mehr: "Du sollst zum Auto laufen", sondern stattdessen: "Du sollst nicht zum Tor laufen, sondern zum Auto." Plötzlich korrigierte Axel sein Verhalten und machte alles wieder richtig.

    Er hatte wieder einen neuen Entwicklungsschritt in seinem Sprachverständnis erworben und diesen durch sein Verhalten umgesetzt.

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  • Gegensätze
  • Axel ist sehr phantasievoll. Und wenn auch für einige Zeit die Schwierigkeiten behoben waren, weil ich ihm nun das Verständnis für verneinende Formulierungen zutraute und er mir beweisen konnte, dass er sie verstand, so entwickelte er auf diesem Sektor in seinem letzten Kindergartenjahr noch einige neue Möglichkeiten, die ich leider nicht alle zu diesem Zeitpunkt entschlüsselte.

    Z.B. rannte Axel immer voraus und wenn ich ihm zurief: "links", dann lief er links, wenn ich ihm zurief: "rechts", dann lief er rechts. Doch plötzlich kehrte er sein Verhalten um. Wenn ich links rief, lief er rechts, wenn ich rechts rief, lief er links. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass er nicht alles extra falsch machen sollte. Von da an deutete er, wenn ich links rief, mit der rechten Hand nach links und lief wieder richtig. Als dann aber in Stuhlkreisen und im Fernsehen links und rechts auch noch Seitenverkehrt erschienen, verwirrte ihn das endgültig. Heute weiß er leider rechts und links nicht mehr zuverlässig zu unterscheiden.

    Genauso zog er konsequent seine Pantoffel falsch herum an - über Jahre hinweg, bis weit in die Schulzeit hinein.

    Das Problem bei einem geistig behinderten Kind ist immer die Frage: Macht es das jetzt extra falsch oder hat es das noch nicht verstanden? Weder ich, die ich durch Fehlervermeidung, Lenkung beim Schuheanziehen und Aufklärung versuchte, die Vorteile des richtigen Anziehens klar zu stellen, noch seine Erzieherinnen im Kindergarten, noch seine extrem strenge Lehrerin der Vorschulklasse, die ihn wegen so mancher Fehlverhalten häufig aus dem Unterricht ausschloss, vermochten es, Axel zum richtigen Pantoffelanziehen zu bewegen. Da Axel immer konsequent die Pantoffel falsch anzog, ging ich davon aus, dass er es eigentlich richtig wusste und eben das Gegenteil tat.

    Wir spielten Puzzle mit Gegensätzen, denn ich vermutete Zusammenhänge zwischen Axels Sprachverständnis und Verhalten (vgl. Pantoffel). Axel lernte schnell, das Puzzle richtig zusammenzufügen. Aber sprechen konnte er so ein langes zusammengesetztes Wort damals noch nicht einmal im Ansatz. Ich wusste auch keine geeignete Gebärde für Gegenteil oder Gegensatz. Axel erfand nie selbst irgendwelche Gebärden und ich fand in den mir zur Verfügung stehenden Büchern auch nichts Passendes. So begnügte ich mich damit, Axels Verhalten verbal zu begleiten oder ihn spielerisch Gegensätze zusammenführen zu lassen und gewann den Eindruck, dass er den Begriff verstanden hatte und schloss das Thema ab. Mir war nicht wirklich klar, welch intensive und für sein Lernen gefährliche Spielerei Axel mit diesem Begriff betrieb.

    Zum Glück gelang es mir immer wieder, wirklich kritische Gegensatzspielereien abzuwenden. Wenn er Buchstaben oder Zahlen umdrehte, machte ich ihm sehr eindringlich deutlich, dass er sich dadurch ganz durcheinander bringen würde. Zum Glück hörte er darauf und spielte auf diesem Sektor nicht mit Gegensätzen.

    Erst als ich ihm mit 10 Jahren die zusammengesetzte Gebärde für das Gegenteil Gebärde: teilen --- mit dem Zeige- oder Mittelfinger in die Handfläche ticken --- entgegengesetzt Gebärde: Gegenteil --- bei brachte und ihn immer wieder in der Situation selbst darauf aufmerksam machte, dass er schon wieder das Gegenteil von dem, was richtig ist, tat, begann er umzudenken.

    Zum Beispiel spielten wir "Mensch ärgere dich nicht". Axel stellte die Puppen mit den falschen Farben auf die falschen Plätze. Ich sagte: "Tu nicht das Gegenteil von dem, was richtig ist." Axel gebärdete Gegenteil und korrigierte die Aufstellung.

    Schließlich fragte Axel selbst gezielt nach dem Gegenteil und das Problem hatte sich endlich gelöst.

    Leider dauerte insgesamt die Zeit der Gegensatz-Spielerei zu lange und Axel gewöhnte sich das Denken in Gegensätzen und Umkehrungen so stark an, dass es selbst heute noch immer wieder vor kommt, dass er zunächst bei zwei Möglichkeiten spontan die falsche wählt und sich erst bei einem Stop und kurzer Überlegung für das richtige Verhalten entscheidet.

    Oft genug kommt es vor, dass er mir widerspricht. Z.B. sagte ich einmal: "Du kannst nicht in Pantoffeln zur Schule gehen" und er widersprach: "DOCH". Ich reagierte, indem ich sagte: "Dann geh doch in Pantoffeln zur Schule. Lass deine Füße nass werden und die Pantoffeln kaputt gehen." Dann antwortete er: "NEIN" und zog die Schuhe ohne weitere Widerrede an.

    Oder wir machten einen Spaziergang über eine Wiese. Wir kamen an einen Graben. In dem Graben stand Wasser mit einer dünnen Eisdecke darüber. Über den Graben führte ein morsches Brett. Ich sagte: "Wir gehen nicht über das Brett, sondern dort hinten den Weg weiter." Axel wollte um jeden Preis über das Brett. Ich sagte: "Geh du über das Brett. Wenn Du einstürzt und nass und kalt aus dem Wasser kommst, ist das Dein Problem." Danach entschied sich Axel problemlos für den ungefährlichen Weg.

    Ich glaube, dass diese Art der Kommunikation erst möglich wurde, weil Axels Sprachverständnis sich durch 2 Jahre guten Hörens, intensiven Gebärdenaufbau und Sprachtraining deutlich verbessert hat und er motorisch und sprachlich inzwischen fähig ist, komplexere Begriffe entweder durch kombinierte Gebärden oder aber durch die Sprache selbst auszudrücken. In jedem Fall ist die Selbständigkeit ein entscheidender Faktor, und wir sollten uns als Eltern, Erzieher und Lehrer davor hüten, unsere Kinder zu viel lenken und ihnen zu wenig Verständnis zuzutrauen.

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    (Sabine Häusler)

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