Weglaufen

Viele Kinder mit Down-Syndrom laufen gern weg. Auch bei Axel gab es das Weglaufen bis er 10 Jahre alt war. Ich möchte die wesentlichen Weglaufstories bis zu Axels Schlüsselerlebnis, dass zu einer Änderung seines Verhaltens führte, erzählen, denn sein Weglaufen war im Nachhinein immer logisch nachvollziehbar:

  • Im Kindergarten
  • Schnee in Florstadt
  • Bei IKEA
  • Einkaufen
  • In der Schule / Vorklasse
  • Im Garten
  • Im Zoo
  • Das Kinderheim-Erlebnis - Das Schlüsselerlebnis
  • Der LKW
  • Mitfahren?
  • Weglaufen - vorbei!
  • Im Kindergarten

    Axel ging einzelintegriert in einen Waldorf-Kindergarten. Der Kindergarten liegt in einem kleinen Ort. In direkter Nachbarschaft gibt es eine Schule für "Seelenpflegebedürftige Kinder" und eine anthroposophische Werkstatt für Behinderte. Viele Eltern dieser Schule und Werkstatt schicken ihre eigenen Kinder in diesen Kindergarten. Somit war unser Axel dort ebenfalls bekannt.

    Mehrfach kam es vor, dass Axel ein Loch im Zaun oder der Hecke des Kindergartens nutzte, um draußen durch dieses Loch zu verschwinden. Glücklicherweise wurde er regelmäßig in Schule oder Werkstatt aufgegabelt und von dort wieder zurückgebracht.

    Zum Beispiel wurde er im Winter, nachdem sie mit dem Kindergarten die Kerzenzieherei kennengelernt hatten, genau in dieser Kerzenzieherei wieder aufgegabelt.

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    Schnee in Florstadt

    Es hatte endlich geschneit. Axel machte deutlich, dass er nach draußen in den Schnee wolle. Ich vertröstete ihn drei Tage nacheinander auf jeweils "morgen". (Zu diesem Zeitpunkt war er etwa 5 Jahre und hatte bereits mit Carla zusammen eine intensive Verkehrserziehung genossen.)

    Am dritten Tag wollten wir in die Lebenshilfe, um dort zu tanzen. Die Kinder waren bereits angezogen: Anorack, Schuhe, Handschuhe usw.. Da fiel mir ein, dass ich noch eine Puppe fü den Tanz vergessen hatte. Ich lief zurück ins Kinderzimmer, um sie zu holen. Unterdessen gingen die Kinder schon mal in den Hof, wo das Auto auf uns wartete. Als ich nach draußen kam, fand ich zwar Carla, nicht aber Axel. Ich fragte sie: "Wo ist Axel?" Sie antwortete: "Der ist auf die Terrasse gelaufen". Ich ging zur Terrasse, fand aber keine Fußspuren, stattdessen aber Spuren an der Terrasse vorbei zur Straße.

    Ratlos standen wir vor dem Haus und ich überlegte, in welche Richtung Axel wohl gelaufen sein könnte. Gerade hatte ich beschlossen, zu den Pferdekoppeln zu laufen, weil das unser häufigstest Ziel bei Spaziergängen gewesen war. Da kam von der Hauptstraße her ein Nachbar mit Axel an der Hand auf uns zu.

    Es stellte sich heraus, dass Axel nicht zu den Pferdekoppeln gelaufen war, sondern über die Hauptstraße hinweg zu den Streuobstwiesen.

    Ich hatte unserem Au-pair-Mädchen im Herbst einmal in Axels Beisein erzählt, dass im Winter die Kinder in den Streuobstwiesen Schlitten fahren würden. Offensichtlich wollte Axel dieses unbedingt sehen und hatte sich diese Information einschließlich Ort genau gemerkt.

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    Bei IKEA

    Axel war etwa 6 Jahre alt. Wir wollten bei IKEA einige größere Einkäufe erledigen. Axel war in dieser Zeit im Kinderparadies. Mittags holten wir ihn zum gemeinsamen Essen ab, um dort in der Kantine zu essen. Auch in der Kantine gab es eine kleine Spielecke. Nach dem Essen tranken Papa und Mama noch eine Tasse Kaffee. Papa sagte zu Carla, Axels Schwester: "Hol mal für Mama Zucker an der Kasse." Axel reagierte daraufhin: "Ich". Er wollte für mich den Zucker holen. Da aber die Kantine zu unübersichtlich war und man an der Kasse nach Zucker fragen musste, lehnten wir das ab, denn wir schätzten Axels sprachliche Fähigkeiten nicht so gut ein, dass er dort verstanden worden wäre.

    Axel ging in die Spielecke zum Klettern. Wir unterhielten uns mit einem Mann am Tisch. Plötzlich war Axel verschwunden. Carla und Papa begannen, Axel zu suchen, ich stellte mich auf den Stuhl, um möglichst weit über die Gäste hinweg schauen zu können. Nach einer Weile kam Axel strahlend mit 4 Tüten Tee in der Hand wieder (ich brauche 4 Tüten Zucker für einen Becher Kaffee).

    Wir waren sehr froh, dass nichts passiert war. Wie kann man einem Kind klar machen, dass es etwas nicht tun darf, weil niemand es verstehen würde, ohne es zu verletzen und ohne sein Selbstbewusstsein zu irritieren?

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    Einkaufen

    Da Axel ein sehr unruhiges Kind war, nie an der Hand lief und immer rannte, übten wir sehr früh die Unterscheidung zwischen rechts und links. Wenn wir einkaufen gingen oder spazieren und er war gesund, dann konnte ich ihn voraus laufen lassen und rief ihm hinterher: "rechts", "links". (wenn er Schnupfen hatte, behielt ich ihn an der Hand, weil ich wusste, dass er mich nicht verstehen würde) Axel lief immer zuverlässig richtig, blieb an jeder Bordsteinkannte spontan stehen und wartete dann im Geschäft, an der Ampel oder an der Bordsteinkannte auf mich.

    Später, als er sich im Straßenverkehr sicher fühlte, bewies er mir, dass er richtig nach rechts und links schaute und nur über die Straße lief, wenn alle Autos vorbei waren.

    In all diesen Situationen musste ich natürlich auch rennen, denn natürlich hatte ich immer Sorge, er würde das richtige Verhalten mal vergessen. Aber immer wieder bewies er mir, dass er es konnte.

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    In der Schule / Vorklasse

    Mit 6 Jahren wurde Axel eingeschult. Da er auf eine Schule für Hörgeschädigte gehen sollte, war die Vorklasse eine Notwendigkeit an dieser Schule. Die Kinder in der Vorklasse sollten auf die Gruppensituation, den Umgang mit Gebärden usw. vorbereitet werden.

    Bis zu den Weihnachtsferien lief alles dort einigermaßen gut. Es gab 2 weitere Schüler in der Klasse, die ähnliche Bedingungen mitbrachten wie Axel. Kurz vor den Weihnachtsferien wurde ein Schüler aus der Vorklasse herausgeholt, weil er "keine Gebärden" mehr brauche. Nun war er in der Klasse der "schlaueste", hätte aber bzgl. Feinmotorik, Sauberkeitserziehung und Sprachförderung intensive Unterstützung gebraucht.

    In den Weihnachtsferien kam eine Grippe mit geplatztem Trommelfell dazu. Als er dann wieder in die Schule kam, war sein Hörvermögen schlecht, er reagierte auf Zuruf nicht mehr (s.o. vgl. "Einkaufen") und für mich war klar, dass er nun wie ein Hörgeschädigter zu behandeln war und die Gebärden nicht mehr zur eigenen Verständigung, sondern auch zum Verstehen überhaupt dringend benötigte.

    Die Lehrerin sah das anders. Sie empfand ihn als bockig und trotzig. Sie grenzte ihn oft aus dem Unterricht aus, weil er sich nicht regelgerecht verhielt und nicht hörte.

    Axel lief in diesem zweiten Schulhalbjahr zweimal bis zur Hauptstraße weg, glaubte, den Weg nach Hause laufen zu können (im Auto kannte er den Weg). Einmal versteckte er sich in einem Raum, dessen Tür so schwer zu öffnen war, dass niemand ihm zutraute, dass er sich dort verstecken könnte.

    Ich hätte Axel kein weiteres Jahr in dieser Klasse gelassen. Zum Glück wurde er eingeschult und kam in einen Klassenverband von 6 Kindern, davon 2 weitere Kinder mit vergleichbarem Leistungsspektrum. So kann der Lehrer durch innere Differenzierung den Unterricht interessant genug gestalten. Seit Axel in diese Klasse geht, ist er nicht mehr weggelaufen.

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    Im Garten

    Gartenarbeit war nicht nach Axels Geschmack. Er besaß nicht die Feinmotorik, um das Unkraut zupfen zu können, nicht die Kraft, um den Korb des Rasenmähers leeren zu können; das Obst und Gemüse des Gartens schmeckten ihm nicht (Carla naschte im Garten Tomaten, Kirschen, Johannisbeeren, Pflaumen, Erdbeeren, Karotten - Axel mochte dieses alles nicht). Auf der Schaukel hatte er Panik (Probleme mit dem Gleichgewichtsorgan), zum Klettern musste ich mich sicherheitshalber hinter ihn stellen, weil ich immer Angst hatte, er würde seine Fähigkeiten überschätzen.

    Axel hielt es immer nur sehr kurze Zeit in unserem Garten aus. Dann lief er entweder ins Haus oder weg. Einmal war er eine ganze Stunde verschwunden, bevor er von einem Nachbarn nach Hause gebracht wurde. (Die ganze Nachbarschaft hatte mit gesucht.) Als Axel nach Hause gebracht worden war, war er total fröhlich. Er hatte keinerlei Aufgeschlossenheit für meine Sorge. Er gluckste noch tagelang immer wieder in sich hinein.

    Er hatte ein absolutes Vertrauen in sich und seine Umwelt und wäre sicherlich genauso in jedes fremde Auto gestiegen, wie er mit dem "fremden Nachbarn" mitgegangen war.

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    Im Zoo

    Axels Augen haben einen Nystagmus, durch den er in schlechten Zeiten nicht einmal 40% Fernsicht hatte. Ich fragte mich, warum er im Zoo meistens rennt, bis mir klar wurde, dass er die kleinen Tiere gar nicht richtig wahrnehmen konnte. Lediglich bei großen Tieren: Giraffen, Elefanten, Nilpferden, Kamelen und ähnlichen Tieren wurde sein Interesse wach, wenn sie nahe genug am Zaun standen.

    Ein Ausflug in den Zoo:
 ein großes Lama direkt am Zaun erweckte so viel Interesse, dass sogar dieses Foto möglich wurde So gestalteten sich Spaziergänge durch den Zoo, insbesondere, wenn noch andere Kinder dabei waren und wir als Gruppe zusammen bleiben mussten, als schwierig. Axel wollte nur rennen, sollte aber bei der Gruppe bleiben, zeigte hierzu aber keinerlei Interesse. Da ich Angst hatte, er könne unterwegs verloren gehen, hielt ich ihn während solcher Ausflüge stets fest an der Hand, was nicht einfach war, weil er sich immer wieder loszuwinden suchte - und das während des gesamten Weges an den Tiergehegen vorbei!

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    Das Kinderheim-Erlebnis - Das Schlüsselerlebnis

    Als Axel 9 Jahre alt war, war seine Feinmotorik so gut, dass wir in den Sommerferien mit ihm das Schreiben seines Namens trainierten. Er konnte am Ende der Ferien Vor- und Zuname schreiben und mit dem Telefon Oma und Tante selbständig anrufen. Er kannte die Verkehrsregeln und verhielt sich nach meiner Einschätzung relativ zuverlässig richtig. Er kam nun körperlich gesehen in die Vorpubertät und somit in ein Alter, in dem Kinder ihr Urvertrauen beginnen, in Frage zu stellen. Meiner Einschätzung nach war er geistig gesehen durchaus mit einem i-Männchen vergleichbar und ich sagte: "Ab sofort laufe ich dir nicht mehr hinterher. Wenn Du mich verlierst, ist das dein Problem."

    Freitag, der 27.5.2004 (Axel war 10 Jahre)

    Carla hatte Nachhilfe in Echzell. Mama und Axel machten in dieser Zeit dort einen Spaziergang durch die Felder, wie immer, wenn das Wetter gut ist. Axel wollte immer weiter den Weg zum Wald folgen. Schließlich sagte Mama: "Das wird zu weit. Wir müssen zurück." Axel wollte aber nicht. Da ging Mama und sagte: "Ich warte nicht auf dich. Wenn du nicht kommst, dann musst du zu Fuß nach Hause laufen." Zunächst lief Axel, für Mama sichtbar, auf einen anderen Weg Richtung Auto, wendete aber dann und lief anders. Da das Korn sehr hoch gewachsen war, konnte Mama Axel dann nicht mehr sehen und ging weiter zum Auto.

    Axel verpasste den Weg zurück. Er rannte sehr schnell und war sehr erschöpft. Schließlich gelangte er zur Hauptstraße. Dort hielt ein Auto. Der Autofahrer öffnete die Tür und fragte Axel etwas. Axel dachte: "Der bringt mich zu meiner Mama" und stieg ein. Leider kannte der Autofahrer Axel gar nicht und rief stattdessen die Polizei an. Er brachte Axel aufs Polizeirevier.

    Auf dem Polizeirevier musste Axel einen Abdruck von seinem Daumen geben. Er wurde nach seinem Namen befragt, erhielt ein Blatt Papier und einen Stift und schrieb seinen Vornamen und auf Nachfrage auch seinen Nachnamen auf. Die Adresse verstanden die Polizisten nicht. Da sie also nicht wussten, wo Axel wohnt, brachten sie ihn in ein Kinderheim in Nidda.

    In dem Kinderheim wurde Axel gebadet, bekam einen frischen Schlafanzug und es wurde ein Bett für ihn gerichtet.

    Unterdessen hatten Mama und Papa die Polizei angerufen, um Axel als vermisst zu melden. Sie erfuhren, wo das Kinderheim ist und holten Axel dort ab. Axel war sehr erleichtert, als er Mama und Papa und Carla erblickte. Er gebärdete sofort: "nach Hause?" und fragte: "Heim?"

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    Der LKW

    In den Sommerferien 2004:

    auf dem Spielplatz Axel kletterte und rutschte auf einem schönen Spielplatz, Papa und Mama saßen auf einer Bank. Axel lief plötzlich vom Spielplatz weg. Unterhalb des Spielplatzes hielt ein Lastwagen blinkend vor einem Kiosk. Axel kletterte an der Seite des LKWs hoch und versuchte die Beifahrertür zu öffnen. Zum Glück war die Tür versperrt. Als Mama Axel dort weg holte, fragte sie: "Was wolltest du in dem Lastwagen?" - "Gucken" - "Was wäre passiert, wenn der Fahrer im LKW gesessen hätte?" - Axel schaute fragend, dann sagte er: "Kinderheim". Mama fragte weiter: "Willst du nicht mehr zu Hause wohnen?" - "Doch".

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    Mitfahren?

    Wir waren auf einer Freizeit im Herbst 2004. Nach einem Besuch im Schwimmbad setzte sich Axel zu einem Jungen ins Auto und wollte ihm ein Buch zeigen. Als die Eltern des Jungen kamen, stieg er aus dem Auto aus, obwohl wir mit den Eltern des Jungen besprochen hatten, dass Axel mit ihm ins Quartier zurück fahren dürfe. Offensichtlich hatte Axels unerschütterliches Vertrauen in seine Umwelt nun doch gelitten.

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    Weglaufen - vorbei!

    fertig, zuende, vorbei Seit diesem Ereignis bin ich mir sicher, dass Axel in kein fremdes Auto einfach aus Spaß einsteigen wird und er sichert sich immer ab, ob ich in der Nähe bin. Er läuft voraus, wenn er das Ziel genau kennt, aber auf Spaziergängen bleibt er an der Seite oder an der Hand!

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    (Sabine Häusler)